Digitalisierung und Bildung

Digitalisierung der Bildung oder Bildung in der Digitalisierung?

Von André Dinter

Die Digitalisierung hat in den vergangenen Jahrzehnten grosse Bereiche der Gesellschaft erfasst. Bisher kaum vorstellbare Formen des Zugriffs auf Informationen, Wissen oder Erfahrungen wurden plötzlich möglich. Beispielsweise konnten über die einfache Fahrplanabfrage der SBB hinaus plötzlich auch Tickets gekauft oder jetzt neu automatisiert beim Ein- und Aussteigen gelöst werden.

Darüber hinaus werden die Bahnhöfe ganz aktuell zu vernetzten Mobilitätshubs ausgebaut, was vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre. Den Nutzungswert digitaler Medien haben seit langem die unterschiedlichsten Bildungsanbieter erkannt. Häufig wird von zeit- und ortsunabhängigem, aber auch von mobilem und situiertem Lernen gesprochen.

Selbstverständlich werden hier die Vorteile von Vernetzungsmöglichkeiten besonders auch der Lernenden untereinander hervorgehoben. So auch im «Horizon Report → 2017 Higher Education Edition». Dort heisst es, dass die Zusammenarbeit der Schlüssel für die Verbreitung effektiver Lösungen ist und dass Institutionen ebenso wie Lehrende profitieren, indem sie voneinander lernen. Dieser breit angelegte Trendreport in Sachen Hochschullehre ist wegweisend mit seinen Schlüsseltrends: Blended-Learning-Design, Kollaboratives Lernen, Fokus auf Messung von Lernprozessen, Neugestaltung von Lernräumen, Beförderung von Innovationskultur und Deeper-Learning-Methoden.

Digitales in der Schule?

Bei diesen Schlüsseltrends handelt es sich um Aspekte von zeitgemässem Lehren und Lernen. Als zeitgemäss bezeichnet man in diesem Kontext nicht nur die Nutzung von digitalen Werkzeugen, sondern auch die Erweiterung des klassischen didaktisch-methodischen Handlungsrepertoires. Aus der Perspektive der Lehrenden lautet die zentrale Frage dabei häufig: «Wie kann ich unter den gegebenen medialen Bedingungen weiterhin guten Unterricht gestalten? Welche weiteren methodischen Ansätze lassen sich realisieren, um das Lernziel effektiv und effizient zu erreichen?» Es stellt sich die Frage, ob «die gegebenen medialen Bedingungen» das Leitmotiv der KME sein sollen, oder ob Bildung davon entkoppelt ist. Geht es dabei um die Digitalisierung der Bildung oder um die Bildung in der Digitalisierung?

Beat Döbeli Honegger gibt darauf in seinem Buch «Mehr als 0 und 1, Schule in einer digitalisierten Welt» einige Antworten: «Schülerinnen und Schüler sollen mit didaktisch sinnvollen und effizienten Mitteln sowie mit Beispielen aus ihrer Lebenswelt auf die berufliche und gesellschaftliche Zukunft vorbereitet werden. Ohne digitale Medien sowohl als Thema als auch als Werkzeug ist dies heute nicht mehr möglich.» Döbeli Honegger kommt zu folgenden Kernaussagen: «Lernargument: Die Nutzung digitaler Medien kann das Lernen fördern. Lebensweltargument: Digitales gehört in die Schule, weil es die Alltagsrealität der Schülerinnen und Schüler prägt. Zukunftsargument: Je länger digitale Kompetenzen währen, desto mehr sind sie eine notwendige Kulturtechnik.» (S. 64 – 72)

«Digitales gehört in die Schule, weil es die Alltagsrealität der Schülerinnen und Schüler prägt.»

Neue Strukturen an der KME

Die KME hat neue Strukturen aufgebaut, um einige Schlüsseltrends und Kernaussagen aufzunehmen. In einem partizipativen Prozess unter Einbezug der Lehrpersonen wurde die Teilzeit-KME neu konzipiert. Zur Erhöhung der Attraktivität für die Studierenden wurde der Präsenzunterricht auf zweieinhalb Tage beschränkt, was die Einführung eines begleiteten Selbststudiums nach sich zog. Ab Herbstsemester 2019 wird in zwei Fächern je eine Lektion als begleitetes Selbststudium im sog. Basisjahr geführt. Im Frühlingssemester 2020 sind dann zwei andere Fächer beteiligt. Änderungen werden somit langsam und behutsam eingeführt, damit sie nachhaltig wirken können. Die digitale Weiterbildung der Lehrpersonen u.a. auch im Hinblick auf das begleitete Selbststudium wurde an einer dreitägigen Fortbildung im November 2018 angestossen und am Weiterbildungstag im September 2019 weitergeführt.

Gleichzeitig wurde im Herbstsemester 2019 das Bring Your Own Device (BYOD)-Konzept eingeführt: zuerst im Basisjahr und in den PH-Kursen. Dies gewährleistet eine schrittweise Einführung von neuen digital unterstützten Ansätzen. Ein weiteres wichtiges Anliegen der Schulleitung ist es, die Zusammenarbeit der Lehrpersonen zu fördern. Deshalb wurde das Digital Forum eingerichtet, dessen Hauptaufgabe das Anstossen, Begleiten und Unterstützen der Lehrpersonen auf dem Weg des digitalen Wandels ist. Das Forum, bestehend aus vier digital affinen Lehrpersonen, bietet Gefässe, um didaktische, methodische und technische Weiterentwicklungen zu diskutieren. Es ist ein Ort, wo Unterrichtsvorhaben gemeinsam diskutiert und realisiert werden.

Orientierung am SAMR-Modell

Orientierung finden Lehrpersonen in den Ausführungen von Hofer und Kauffmann «Neue Medien – neuer Unterricht?», die erprobte und alltagsnahe digitale Unterrichtsszenarien beschreiben. Modellhafte Orientierung finden Lehrpersonen darüber hinaus im SAMR-Modell. In vier Stufen, von Substitution (Ersetzung = das Digitale ist direkter Ersatz für ein Arbeitsmittel, z.B. Beamer gegen Wandtafel) bis zur Redefinition (Neubelegung = das Digitale ermöglicht das Erzeugen neuartiger Aufgaben und Produkte, z.B. Videoprotokolle) ist eine Einordnung des eigenen didaktisch-methodischen Ansatzes möglich. Viele Lehrpersonen sind erstaunt, dass ihre geplanten digitalen Unterrichtsvorhaben in einer höheren Stufe des SAMR-Modell anzusiedeln sind, als sie selbst erwartet hätten.

Flipped Classroom im Chemieunterricht – eigene Erfahrung

Meinen Chemie-Unterricht im Bereich der PH-Vorkurse (Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung an die PHZH) habe ich neu als flipped classroom konzipiert. Die eigentlichen Inhalte werden im Voraus von den Studierenden vorbereitet und der Stoff wird im Präsenzunterricht gefestigt und «beübt». Ich ordne das für mich im SAMR-Modell als Modification (dritte von vier Stufen) ein, in der die Technik eine beachtliche Neugestaltung von Aufgaben ermöglicht.

Vorgängig habe ich eine Lernstandsdiagnose zur Hand und kann im Präsenzunterricht spezifisch auf die Schwierigkeiten der Studierenden eingehen, sei es individuell oder im Plenum, ganz nach Bedarf. Dieser Ansatz bringt aus meiner Perspektive und nach einigen Jahren Erfahrung für alle Beteiligten ein erfreuliches Erfolgserlebnis. Die Studierenden fühlen sich freier in ihren Lernwegen, während ich zunehmend eine beratende Expertenfunktion einnehme.

Mischwald oder Monokultur

Das Schlusswort überlasse ich Hilbert Meyer, Prof. em. für Schulpädagogik der Uni Oldenburg: «Mischwald ist besser als Monokultur». Es muss nicht alles digitalisiert, individualisiert und mediengestützt gestaltet sein, genauso wie nicht alles im Frontalunterricht ablaufen sollte. Auf die intelligente Balance kommt es an.

Text: André Dinter, Prorektor KME
Bilder: André Dinter